Primärarztprinzip: Pro & Contra
Die Chancen und Risiken des Primärarztprinzips
Die Debatte um das Primärarztprinzip ist zurück. Angesichts steigender Gesundheitskosten plant die Bundesregierung eine Reform, die den Hausarzt zur ersten Anlaufstelle machen soll. Was steckt dahinter und was sind die Kernargumente?
I. Worum geht es?
Das Primärarztprinzip (Hausarztmodell) sieht vor, dass Patienten bei Beschwerden zuerst einen Hausarzt aufsuchen, der dann bei Bedarf zum Facharzt überweist. Hauptziele sind Kostensenkung (erhoffte Einsparungen bis zu zwei Milliarden Euro bis 2028), bessere Patientensteuerung und schnellere Facharzttermine für medizinisch notwendige Fälle. Aktuell gilt in Deutschland weitgehend freie Arztwahl.
II. Die Pläne der Bundesregierung
Kern ist die verbindliche Erstkonsultation beim Haus- oder Kinderarzt.
Ausnahmen sind geplant für Augenärzte, Gynäkologen, Kinderärzte (als Primärärzte), chronisch Kranke (z.B. Jahresüberweisungen) und Notfälle.
Eine "Termingarantie" soll sicherstellen, dass Patienten mit medizinischer Notwendigkeit innerhalb eines festgelegten "Zeitkorridors" einen Facharzttermin erhalten, vermittelt durch den Primärarzt oder die Terminservicestelle. Scheitert die Vermittlung, soll der Facharztbesuch ambulant im Krankenhaus möglich sein.
Digitale Ersteinschätzung soll das System unterstützen. Wer das System ohne Notwendigkeit umgeht, muss mit Eigenbeteiligung oder längeren Wartezeiten rechnen. Die Einführung ist frühestens für 2026 geplant.
III. Argumente pro Primärarztprinzip
- Kostensenkung: Vermeidung unnötiger, teurer Facharztbesuche und Doppeluntersuchungen. Bis zu 23% der Facharztkosten entfallen auf doppelte Diagnostik.
- Bessere Versorgungskoordination: Der Hausarzt kennt die Krankengeschichte und steuert die Behandlung gezielter. Fachärzte können sich auf komplexe Fälle konzentrieren.
- Schnellere Facharzttermine: Durch Steuerung sollen dringende Fälle schneller Termine bekommen.
- Stärkung der Hausarztposition: Die zentrale Rolle der Allgemeinmedizin wird betont.
IV. Kritikpunkte und Herausforderungen
- Einschränkung der freien Arztwahl: Verlust an Autonomie für Patienten.
- Hausärztemangel und Überlastung: Zusätzlicher Aufwand für bereits überlastete Praxen; bis 2035 könnten 11.000 Hausarztstellen fehlen.
- Potenzielle Verzögerungen und Qualitätsrisiken: Gefahr von Fehl- oder Spätdiagnosen.18
- Umsetzung der "Termingarantie": Skepsis, ob dies ohne strukturelle Verbesserungen (Ärztemangel) funktioniert.
- Haftungsrisiken für Hausärzte: Erhöhtes Risiko durch Lotsenfunktion.
- Versorgung chronisch Kranker und Akzeptanz: Bedenken bei der Praktikabilität für chronisch Kranke; geringe Akzeptanz in der Bevölkerung.
V. Internationale Erfahrungen
Viele europäische Länder (z.B. Niederlande, Dänemark, UK) haben Primärarztsysteme mit Gatekeeper-Funktion. Die Erfahrungen sind gemischt:
- Teils Hinweise auf geringere Kosten und bessere Versorgungsqualität.
- Patientenzufriedenheit in strengen Gatekeeping-Systemen oft geringer.
- Herausforderungen wie verzögerte Diagnosen (z.B. bei Krebs in UK) oder veränderte Patientenwünsche (Niederlande).
- Erfolg hängt stark von einer gut ausgestatteten und vertrauenswürdigen Primärversorgung ab. Deutschland hat im OECD-Vergleich hohe Gesundheitsausgaben und viele Arztkontakte.
VI. Verpflichtend vs. freiwillig (HZV)
Die Hausarztzentrierte Versorgung (HZV) ist ein bestehendes, freiwilliges Modell mit positiven Evaluationen (bessere Steuerung, weniger Krankenhausaufenthalte). Das geplante System wäre jedoch verpflichtend und würde eher auf Sanktionen (Zuzahlungen) als auf Anreize setzen. Die Übertragbarkeit der HZV-Erfolge ist fraglich.
VII. Stimmen aus der Praxis
- Bundesärztekammer (BÄK): Unterstützt bessere Steuerung, warnt aber vor "Behandlungskoordination mit der Brechstange"; fordert Entbudgetierung.
- Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV): Abwartend; eigenes Konzept sieht Steuerung durch Haus-, Kinder- und Frauenärzte sowie Kostenbeteiligung bei Direktzugang vor.
- Deutscher Hausärzteverband: Begrüßt die Pläne als Stärkung der HZV.
- Spitzenverband Fachärzte Deutschlands (SpiFa): Hält rein hausärztliche Steuerung für unzureichend, fordert Direktzugang für bestimmte Fälle.
- GKV-Spitzenverband (Krankenkassen): Für Effizienzsteigerung und Kostendämpfung.
- Patientenschützer: Scharfe Kritik wegen Einschränkung der Arztwahl und Überlastung der Hausärzte.
- Marburger Bund: Fokus auf Arbeitsbedingungen, Bürokratie, Haftungsrisiken.
- MEDI GENO Deutschland: Unterstützt Primärarztsystem im Rahmen der HZV, fordert Entbudgetierung der Fachärzte.
VIII. Fazit und Ausblick
Das Primärarztprinzip bietet Chancen zur Kostensenkung und besseren Versorgungskoordination, birgt aber Risiken wie die Einschränkung der freien Arztwahl, Überlastung der Hausärzte und mögliche Versorgungsdefizite. Der Erfolg hängt von der konkreten Ausgestaltung, der Lösung des Hausärztemangels und der Akzeptanz in der Bevölkerung ab. Es wäre ein Paradigmenwechsel für das deutsche Gesundheitssystem.